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Coronapandemie in Italien Umstrittener WHO-Funktionär verlässt Organisation und verklagt Whistleblower

Es geht um Vertuschung eines kritischen Berichts darüber, wie gut Italien auf eine Pandemie vorbereitet war. Nun hat ein ehemaliger Vizedirektor die WHO verlassen – und verklagt einen Ex-Mitarbeiter.
Ehemaliger WHO-Spitzenfunktionär Ranieri Guerra

Ehemaliger WHO-Spitzenfunktionär Ranieri Guerra

Foto: Mauro Scrobogna / picture alliance / ZUMAPRESS.com
Globale Gesellschaft

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Der Mann, der den WHO-Chef beriet und in Italien die Pandemie-Vorbereitung steuerte, hilft jetzt offenbar bei der Weiterbildung von Ernährungsberatern und Hausärzten. So steht es jedenfalls auf dem LinkedIn-Profil von Ranieri Guerra. Sein neuer Arbeitgeber ist demnach die »Nationale Akademie für Medizin« – eine Bildungseinrichtung in Genua, die im Internet mit Bildern von grau gestrichenen Klassenzimmern, Schulbänken und Klappsitzen aus Holz für sich wirbt.

Italienische Tageszeitung mit zehn Seiten Todesanzeigen in der Pandemie: Mögliche Fehler beschäftigen das Land noch heute

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Foto: Flavio Lo Scalzo / REUTERS

Es scheint der vorläufige Schlusspunkt einer monatelangen Affäre. Bis vor Kurzem war Guerra noch Vizedirektor der Weltgesundheitsorganisation, danach arbeitete er als »Sonderberater« des WHO-Direktors. Jetzt ist er offensichtlich still und leise seinen Posten los.

WHO bestätigt Abgang Guerras erst nach Tagen

Ein Sprecher der Uno-Organisation bestätigte gegenüber dem SPIEGEL den Abgang mit zwei knappen Sätzen. Dass die WHO inzwischen so wortkarg über ihren ehemaligen Spitzenfunktionär spricht, dürfte kaum Zufall sein.

Die Staatsanwaltschaft Bergamo ermittelt seit mehreren Monaten gegen Guerra wegen des Verdachts der Falschaussage. Es geht um die Frage, ob er womöglich Mitarbeiter unter Druck gesetzt und einen für Italien unangenehmen Coronabericht sabotiert hat. Vor allem aber geht es darum, ob er im Anschluss möglicherweise noch versuchte, die Ermittler zu täuschen.

Viele Hinterbliebene fragen sich bis heute, ob die Pandemie in Italien auch deshalb so heftig ausfiel, weil Probleme vertuscht wurden. Die Affäre um Guerra spielt dabei eine wichtige Rolle. Vor seiner Zeit bei der WHO war er im italienischen Gesundheitsministerium tätig, in der Pandemie schickte ihn die Organisation als Vermittler zeitweise zurück nach Rom.

WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus wurde von Guerra als angeblicher Mitwisser benannt

WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus wurde von Guerra als angeblicher Mitwisser benannt

Foto: POOL New / REUTERS

Dokumente, E-Mails und Chatnachrichten, die dem SPIEGEL vorliegen und über die er bereits mehrfach berichtete, zeichnen ein düsteres Bild davon, wie im Inneren der WHO unter Guerra über Monate kommuniziert wurde. Eigene Mitarbeiter wurden von ihm als »Idioten« bezeichnet. Vor einem Gesundheitsfunktionär aus seinem Heimatland wünschte er sich, dass in seiner Organisation »Köpfe rollen«. Über den Umgang mit Mitarbeitern schrieb er: »Ich war brutal.«

Anstoß der Auseinandersetzungen war ein Bericht, den die WHO Anfang Mai 2020 veröffentlichte und der sich mit Erfahrungen und Problemen bei der Pandemiebekämpfung in Italien beschäftigte. Darin hieß es unter anderem, dass Italien seit 2006 regelmäßige Aktualisierungen der Pandemiepläne versäumt habe und zu Beginn der Pandemie überfordert gewesen sei. Doch innerhalb von 24 Stunden verschwand das Papier wieder aus der Öffentlichkeit.

Die WHO bestreitet seit Bekanntwerden des Vorfalls, ihre Experten zensiert zu haben. Grund seien allein inhaltliche Fehler und neue Vorgaben. Auch seien Absprachen missachtet worden. Schon damals zeigten interne Mails, die dem SPIEGEL ebenfalls vorliegen, jedoch, wie massiv die Autoren des Berichts unter Druck gesetzt wurden. Im Mittelpunkt auch hier: der damalige WHO-Vizedirektor Ranieri Guerra.

Später prahlte er selbst mit seiner angeblichen Einflussnahme: »Ich bin schließlich zu Tedros gegangen und habe das Dokument zurückziehen lassen«, schrieb Guerra im Mai 2020 einem italienischen Gesundheitsfunktionär per Chat. Tedros ist der Rufname von WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Coronatote in Italien: Wurden zu Beginn der Pandemie gemachte Fehler vertuscht?

Coronatote in Italien: Wurden zu Beginn der Pandemie gemachte Fehler vertuscht?

Foto: Marco Di Lauro / Getty Images

Sollten die Ermittlungen in Italien diese Behauptung Guerras bestätigen, hätte die Weltgesundheitsorganisation ein veritables Glaubwürdigkeitsproblem.

Dass Guerra nun seine Arbeit los ist, könnte jedoch verschiedene Gründe haben. Als bereits 68-Jähriger amtierte der Italiener zuletzt nur noch als »Sonderberater des Generaldirektors«. Dieser Vertrag könnte nun ausgelaufen sein. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er unter Druck selbst in den Ruhestand wechselte – oder aber dorthin geschickt wurde.

Ehemaliger WHO-Vize verklagt Whistleblower

Guerra selbst scheint den Ruhestand noch nicht als Schlusspunkt zu sehen. Neben seiner Arbeit für die Weiterbildungseinrichtung in Genua wurde er in den vergangenen Wochen auch an anderer Stelle aktiv.

Wie italienische Medien berichten, verlangt der ehemalige WHO-Vize in einem Zivilverfahren insgesamt 2,5 Millionen Euro Schadensersatz. Adressat der Klage ist Francesco Zambon, der WHO-Mitarbeiter, mit dessen kritischem Italienbericht im vergangenen Frühjahr die Affäre begann.

Zambon machte die Auseinandersetzung damals zunächst intern bekannt und bat mehrfach um Hilfe. Internationale Organisationen wie Transparency International sehen ihn deshalb als Whistleblower. Sie werfen der WHO in der Affäre »schwerwiegende Mängel« vor.

Ehemaliger WHO-Mitarbeiter Franceso Zambon: »Es war unsere Aufgabe, die damalige Situation unabhängig zu beschreiben«

Ehemaliger WHO-Mitarbeiter Franceso Zambon: »Es war unsere Aufgabe, die damalige Situation unabhängig zu beschreiben«

Foto: Domenico Stinellis / AP

Im März verteidigte Zambon seine Arbeit im Gespräch mit dem SPIEGEL: »Es war unsere Aufgabe, die damalige Situation unabhängig zu beschreiben.« Auch er arbeitet nicht mehr für die WHO. Über seine Sicht der Dinge hat er inzwischen ein Buch geschrieben.

Für Guerra handelt es sich bei den öffentlichen Berichten Zambons dagegen um Verleumdung. Dokumente, die dem SPIEGEL vorliegen, zeigen, dass Guerra noch weitere Verfahren anstrengt, auch der Fernsehsender RAI Tre und ein privates Medienunternehmen sollen demnach zahlen.

Die Aufarbeitung, die die WHO bislang so scheut, sie könnte am Ende auf Antrag ihres ehemaligen Vizedirektors in einem Gerichtssaal doch noch stattfinden.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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